Sind soziale Medien schlecht für die Meinungsbildung?

Mit der Verbreitung sozialer Medien wachsen in den letzten Jahren Befürchtungen, dass sie sich negativ auf die Meinungsbildung auswirken. Fake news, radikale Inhalte, Algorithmen, die einem vor allem zeigen, was man sowieso schon denkt, und anderes mehr gehören dabei zu den vermuteten Ursachen. Tatsächlich liegen hierzu in der Forschung zahlreiche Untersuchungen vor, die Auswirkungen sozialer Medien auf die Demokratie und ihre Mitglieder untersuchen.
Dieser Kompaktüberblick nimmt dabei die individuelle Meinungsbildung in den Fokus. Sie gilt als Dreh- und Angelpunkt einer Demokratie, da die eigene Position zu politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Fragen und Problemen eine wichtige Grundlage für z.B. das Wahl- und Abstimmungsverhalten ist. Dieses wiederum beeinflusst, welche Personen oder Parteien in der nächsten Legislaturperiode Entscheidungen treffen, die dann für alle verbindlich gelten. Wenn soziale Medien in diesen Prozess eingreifen, sollte geklärt werden, ob Nutzer:innen z.B. andere Meinungen nicht mehr wahrnehmen oder in ihren eigenen Ansichten immer extremer werden.
Was Menschen tagtäglich in sozialen Medien sehen, hat also potenziell weitreichende Konsequenzen. Diese Zusammenfassung aktueller Forschung bietet einen Überblick zu wesentlichen Aspekten des Problemfelds: Warum soziale Medien überhaupt Inhalte und Meinungen auswählen und wie diese Auswahl geschieht; welche Folgen diese Auswahl auf die Meinungsbildung in der Nutzerschaft hat; und welche Handlungsmöglichkeiten für Nutzer:innen, Plattformunternehmen und Politik bestehen. Zu konkreten Befürchtungen aus der öffentlichen Debatte, etwa zu Fake news, Radikalisierung oder Filterblasen, können vertiefende Steckbriefe des Forschungsstandes aufgeklappt werden.

Warum soziale Medien Meinungen auswählen (müssen)

Welche Inhalte soziale Medien ihren Nutzer:innen anzeigen, ist das Ergebnis mehrerer Auswahlprozesse, die für das Funktionieren der Plattform notwendig sind und gleichzeitig unterschiedliche Ziele verfolgen:
Soziale Medien machen es ihren Nutzer:innen sehr einfach, eigene Inhalte zu erstellen oder fremde Inhalte zu verbreiten. Der Anteil der von Plattformen selbst produzierten Inhalte ist dagegen sehr gering. Dadurch ist die Menge an Beiträgen, die in einem sozialen Medium kursieren, praktisch unbegrenzt und muss in irgendeiner Art zugänglich gemacht werden, durch z.B. Gruppierung, Filterung oder Sortierung.
Soziale Medien müssen rechtliche Vorgaben zur Zulässigkeit von Inhalten beachten. Dies berührt z.B. Persönlichkeitsrecht, Jugendschutz, Urheberrecht oder andere Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Aktuell gibt es immer wieder Konflikte um Plattformen, die weltweit verfügbar sind, aber nach jeweils geltendem nationalen Recht unterschiedliche Grenzen wahren müssen.
Die Geschäftsmodelle sozialer Medien hängen zu einem Großteil von Werbetreibenden, z.T. auch von zahlenden Nutzer:innen ab. Entsprechend müssen die Anbieter:innen ihren Stakeholder:innen ein ansprechendes Umfeld anbieten. Bei werbebasierten Geschäftsmodellen muss dieses Umfeld zweiseitig funktionieren, damit ausreichend Kontaktmöglichkeiten zwischen Werbeinhalten und Nutzer:innen hergestellt werden können. Häufig legen es die Plattformen dabei darauf an, dass User:innen möglichst lange auf ihren Seiten verweilen oder möglichst viel mit den vorhandenen Beiträgen interagieren.
Letztlich haben soziale Medien auch eigene Vorstellungen davon, wofür ihre Plattform dienen soll und wofür nicht. Ihre Nutzungsbedingungen legen entsprechend über rechtliche Vorgaben hinaus Grenzen für zulässige Inhalte fest. Laxe oder strenge Regeln in Bezug auf Nacktheit und Äußerung politischer Meinungen haben die Diskussion um die Auswahlentscheidungen sozialer Medien in den letzten Jahren bestimmt.
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Die Zusammenstellung von nicht-selbsterstellten Inhalten für die Nutzerschaft, also deren Kuratierung, ist somit eine zentrale Funktion sozialer Medien. Angesichts sehr großer Nutzungszahlen, riesiger Mengen an ständig veröffentlichten Beiträgen und internationaler Nutzungs- und Rechtskontexte stellt sie eine komplexe Herausforderung mit vielfältigen möglichen Konsequenzen dar. Dieses Spannungsfeld sollen zwei Beispiele verdeutlichen:

Facebooks Newsfeed-Algorithmen: Enthüllungen über die Folgen

Die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen hat im Herbst 2021 interne Unternehmensdokumente an das Wall Street Journal gegeben Link öffnen 
und in einer Anhörung des US-Senats Link öffnen zu den Geschäftspraktiken und Zielen der Plattform ausgesagt. Demnach sind die Newsfeed-Algorithmen dafür optimiert worden, möglichst viel „engagement“ hervorzurufen, also Interaktion mit Beiträgen durch Liken, Kommentieren und Weiterleiten. Dies fördert u.a. Posts, über die Nutzer:innen sich aufregen, auch wenn es sich z.B. um Falschinformationen bis hin zu Verschwörungstheorien handelt. Das Unternehmen war sich nach den geleakten Unterlagen und Aussagen von Frances Haugen negativer Folgen dieser Inhalte bereits seit Jahren durchaus bewusst, ließ sie aber zugunsten anderer Ziele dennoch geschehen.

Die Debatte um YouTube: Radikalisierung durch Videoempfehlungen?

YouTube ist durch mehrere prominente Beiträge in der New York Times seit 2018 dafür kritisiert worden, Nutzer:innen durch seine immer extremeren Videoempfehlungen zu radikalisieren. In einem Interview sagte der damals leitende Produktverantwortliche und heutige CEO, Neal Mohan Link öffnen, es sei unlogisch anzunehmen, dass YouTube eine Radikalisierung von Videoempfehlungen absichtlich herbeiführe, um Nutzer:innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Denn große Werbetreibende hätten kein Interesse, ihre Spots neben radikalem Content anzuzeigen, und mit der Nutzungszeit allein generiere YouTube keinen Umsatz.
Beide Fälle zeigen, dass parallel unterschiedliche Ziele verfolgt werden – denen es zudem mit hochkomplexen Algorithmen schwer ist, gleichermaßen gerecht zu werden.

Wie soziale Medien kuratieren

Im Vergleich zur Kuratierung von Inhalten z.B. bei einer Zeitung, einem Radio- oder Fernsehsender gibt es für soziale Medien zwei zentrale Besonderheiten: Zum einen wissen sie ungleich genauer als klassische Massenmedien, wer ihre Nutzerschaft ist und was sie auswählt. Zum anderen gehört zu ihrem Selbstbild i.d.R. kein publizistischer Anspruch, für aktuelle und gesellschaftlich relevante Berichterstattung, inhaltliche Einordnung oder redaktionelle Kommentierung zu sorgen. Im Gegenteil argumentiert z.B. Facebook seit Jahren, gerade kein Medium zu sein.
Die detaillierten Informationen, die Nutzer:innen selbst in ihre Profile eintragen und die sich aus ihrem Klickverhalten über die Zeit ergeben, sorgen dafür, dass soziale Medien auf individueller Ebene für die jeweiligen Nutzer:innen Inhalte kuratieren. Zum einen steuern die User:innen die Auswahl der Beiträge, die sie sehen wollen, direkt mit, weil sie anderen Konten folgen, Beiträge abonniert haben oder gezielt nach Angeboten suchen. Zum anderen gehen die meisten Plattformen davon aus, dass Menschen mehr von dem sehen wollen, was sie nach den sehr umfassenden und kleinteiligen Nutzungsdaten der Vergangenheit bereits oft oder lange angesehen haben. Dabei kann man grob zwischen zwei Verfahren unterscheiden:
Empfehlungssysteme basieren auf Ähnlichkeit zwischen Inhalten und Nutzungstypen: Wenn viele nach Inhalt X auch Inhalt Y nutzen, wird dieser zukünftigen Nutzer:innen im Anschluss oder neben Inhalt X vorgeschlagen. Ob Inhalt Y tatsächlich aufgerufen wird, obliegt aber den Nutzer:innen in der konkreten Situation. In solchen Systemen lassen sich über IP-Adressen zum Beispiel ungefähre Standorte, aber auch Tages- oder Jahreszeit der Nutzung in die vorgeschlagenen Empfehlungen integrieren. Diese Anpassung des Angebots bleibt vergleichsweise grob und ähnelt letztlich Verfahren aus anderen Medienbranchen, die zum Beispiel „Audience Flow“ von einer Fernsehsendung zur nächsten herstellen sollen oder Werbung und redaktionelle Inhalte an das mutmaßliche Publikum einer Sendung oder Zeitschrift anpassen.
Bei der notwendigen Auswahl von Content verwenden soziale Medien Zielgrößen wie häufige, regelmäßige oder umfangreiche Nutzung, das vollständige Ansehen von Videos oder besonders viel „engagement“ (Liken, Kommentieren, Teilen…). Dabei ist die richtige Mischung aus Bekanntem und Neuem oder Überraschendem nicht trivial, damit Nutzer:innen nicht immer wieder dieselben Beiträge vorgeschlagen werden. Netflix, damals noch ein Versandverleih von Filmen auf DVD, hat dieses Problem zur Aufgabe in einem Wettbewerb gemacht: Wer einen besseren Empfehlungsalgorithmus als den hauseigenen „Cinematch“ entwickelte, konnte ein Preisgeld von einer Million US-Dollar gewinnen, was den Wert guter Contentempfehlungen unterstreicht. Empfehlungs- und Personalisierungssysteme in sozialen Medien stehen vor einem ähnlichen Dilemma wie Netflix: Nur Beiträge vorzuschlagen, die zu früherer Nutzung passen, könnte auf Dauer eintönig werden und zu weniger oder kürzerer Nutzung der Plattform führen. Umgekehrt ist YouTube in die Kritik geraten, weil bei politischen Videos radikalere Inhalte zur weiteren Nutzung vorgeschlagen wurden, bis hin zu politischem Extremismus und Verschwörungstheorien [1]. Ebenfalls problematisch für die Videoplattform war, dass 2017 Anzeigen großer Werbetreibenden neben Videos mit extremen politischen Inhalten und Hassrede zu sehen waren. Die Kündigung ihrer millionenschweren Werbeverträge setzte YouTube stark unter Druck, seine Kuratierung neben dem Nutzungsverhalten der User:innen auch an die Ziele der Werbetreibenden anzupassen. Die dann erlassenen, strengeren Regeln für die Monetarisierung von Videos wiederum hatten Auswirkungen auf die Content Creators, deren Videos die Grundlage des Kontakts zwischen Nutzer:innen und Anzeigen bilden.
Im Ergebnis ist in sozialen Medien eng gekoppelt, was Nutzer:innen sehen wollen (im Sinne von: was sie oft auswählen), was Plattformen für ihre eigenen, in der Regel kommerziellen Ziele sinnvoll erscheint, was Werbetreibende als werbefreundliches Umfeld wahrnehmen und welcher Content produziert wird. Langfristige Trends hin zu immer radikaleren Contentempfehlungen oder Netzwerken von politisch Gleichgesinnten, die einander auf sozialen Netzwerkseiten ähnliche Inhalte empfehlen, werden als besondere Gefahr für die Meinungsbildung gesehen.

Was läuft unter der Oberfläche von sozialen Medien ab? Wie kann Werbung verdeckt Einfluss nehmen? Und wie wirken sich Bots auf die Kommunikation aus?

Wie sich die Kuratierung auswirkt

Um zu erforschen, wie sich die Kuratierung in sozialen Medien auswirkt, stehen der Forschung zwei sehr verschiedene Wege offen: Zum Einen kann man Nutzer:innen befragen. Dies gilt für die Erfassung von Meinungen als der aussagekräftigste Weg und erlaubt zudem die Erhebung diverser möglicher Einfluss- oder Störfaktoren (die man in einem experimentellen Studiendesign zudem kontrollieren kann). Nachteile entstehen dadurch, dass nur sehr grob untersucht werden kann, mit welchen Inhalten man in sozialen Medien in Kontakt kam, weil Erinnerung, Zeit und Geduld der Befragten Grenzen setzen. Der zweite Weg besteht darin, Mediennutzung in sozialen Medien automatisiert und in sehr großer Zahl zu erfassen. Zu den politischen Meinungen oder sonstigen Eigenschaften der Nutzer:innen liegen dann aber häufig kaum oder nur unvollständige Informationen vor.
Für knapp die Hälfte der Erstwähler:innen sind soziale Medien die wichtigste Quelle für politische Informationen
Bundestagswahl 2021

Wer nutzt welche sozialen Medien für Nachrichten?

Regelmäßige Befragungen wie der Reuters Digital News Report zeigen, dass soziale Medien bei vielen Menschen in Deutschland einen festen Platz in der Nachrichtennutzung einnehmen [2]. Besonders von jungen Menschen werden sie regelmäßig genutzt; bei der Bundestagswahl 2021 stellten soziale Medien für knapp die Hälfte der Erstwähler:innen die wichtigste Quelle für politische Informationen dar [3]. Sehr häufig werden soziale Medien aber mit zahlreichen anderen Nachrichtenmedien kombiniert, sodass die spezifischen Auswirkungen der Nutzung sozialer Medien schwer zu bemessen sind.
Milieuorientierte Studien legen nahe, dass starke Effekte sozialer Medien besonders bei zwei Gruppen zu erwarten sind: bei Menschen, die fast nur über soziale Medien mit Nachrichten in Kontakt kommen oder deren Netzwerk an Kontakten in sozialen Medien sehr homogen in Bezug auf politische Meinungen ist [4]. Die anderen Milieus nutzen auch zahlreiche andere Nachrichtenquellen, wodurch der Konsum sozialer Medien weniger stark ins Gewicht fällt.
Eine Analyse großer Datenmengen zu digitalisierter Nutzung zeigt zudem, dass soziale Medien als Verteiler fungieren, über die durchschnittliche Nutzer:innen mit mehr Nachrichten in Kontakt kommen, als es sonst der Fall wäre [5]. Über die inhaltliche Ausrichtung dieser Nachrichten kann die Studie keine Aussage treffen, wozu es bei US-amerikanischen Studien mit großen Nutzungsdatensätzen zumindest eine Annäherung gibt: Im dortigen Zweiparteiensystem nutzen Forscher:innen den Anteil von Menschen mit einer bestimmten Parteineigung, die einen Beitrag online angesehen haben, als Indikator für dessen vermutliche politische Ausrichtung (republikanisch, demokratisch oder ausgeglichen beziehungsweise politisch unabhängig). Dabei zeigt sich, dass die große Mehrheit der Nutzer:innen auf Medienbeiträge zugreift, deren Ausrichtung neutral ist und die über beide Parteien sowie Menschen ohne Parteipräferenz hinweg häufig genutzt werden [6]. Lediglich kleine Extremgruppen am Rand nutzen vor allem Beiträge, die nur in ihrem eigenen politischen Lager beliebt sind.
Diese Ergebnisse rufen in Erinnerung, dass es zahlreiche politische Meinungen gibt, die bereits vor der Mediennutzung bestehen, auch der Nutzung sozialer Medien, und die die Zuwendung zu Inhalten beeinflussen können. Bei bestehenden politischen Meinungen erscheint es plausibel, dass sich die Nutzung sozialer Medien verstärkend auswirkt, wenn man meinungskonforme Beiträge nutzt oder ausgleichend, wenn man auf meinungsvielfältige Beiträge zugreift. Tatsächlich konnte in einer Befragung von Facebook-Nutzer:innen in Deutschland kein Effekt auf die eigene Meinung beobachtet werden [7]. Viel mehr als die Nutzung von Facebook hängen das Geschlecht und die Nutzung von Tageszeitungen mit der politischen Meinung zusammen: Frauen und Leser:innen von Tageszeitungen haben eine deutlich moderatere politische Meinung als Männer beziehungsweise Nicht-Leser:innen. Auch dieses Ergebnis betont noch einmal die Relevanz der Nutzung anderer Medien für die Meinungsbildung, über soziale Medien hinaus.

Experimente zu Meinungsbildung

Anstatt wie in dieser Studie die Effekte der tatsächlichen alltäglichen Kuratierung sozialer Medien zu erforschen, wobei zahlreiche Drittfaktoren eine Rolle spielen, führen andere Forscher:innen Experimente durch. Dabei zeigen sie Proband:innen meinungshaltige Beiträge aus sozialen Medien und erfragen mögliche Veränderungen der politischen Meinungen der Nutzer:innen. So lässt sich der spezifische Einfluss von Beiträgen aus sozialen Medien kontrolliert bestimmen. Eine Überblicksarbeit zu sieben solcher Experimentalstudien zeigt, dass sich vor dem Experiment bestehende Meinungsunterschiede durch das Zeigen von Posts aus sozialen Medien vertiefen [8]. In einer österreichischen Studie zum Beispiel sahen politisch links stehende Proband:innen einen rechtspopulistischen Politiker negativer, nachdem sie zwei seiner migrationsfeindlichen Tweets gesehen hatten [9].
Man spricht in solchen Fällen von einer Polarisierung der Meinungen durch soziale Medien. Allerdings können Experimente dieser Art nicht beantworten, ob es sich um eine wirkliche Meinungsveränderung handelt oder eher die Meinung zu dem Politiker durch die Tweets stärker in Erinnerung gebracht wird. Ebenso ist unklar, wie lange der Effekt nach der Nutzung anhält. Und angesichts der vielen Auswahlentscheidungen, die Nutzer:innen in sozialen Medien im Alltag treffen, stellt sich drittens ein Henne-Ei-Problem: Wenn man sich Kontakte in sozialen Medien nach Ähnlichkeit sucht und Beiträge liket, die der eigenen Meinung entsprechen, woraufhin eine Plattform einem zukünftig ähnlichen Content anzeigt, wie sehr ist eine Meinung dann schon vor der Nutzung polarisiert und wie stark ist der zusätzliche Effekt durch soziale Medien noch?
Zusammengefasst werden also vielfältige Auswirkungen der Kuratierung auf die Nutzung von Nachrichten in sozialen Medien sowie die Meinungsbildung untersucht. Polarisierungseffekte werden in Experimenten durchaus nachgewiesen. Aber die meisten Menschen kommen in sozialen Medien mit vielfältigen und meinungsmäßig ausgewogenen Beiträgen in Kontakt. Zudem stellen soziale Medien für viele Altersgruppen nur eine unter vielen Nachrichtenquellen dar.

Zwei mögliche Gefahren der Kuratierung, die weiter beobachtet werden sollten

Der Forschungsstand zu den Auswirkungen der Kuratierung durch soziale Medien ist also komplex, und viele der Befunde bieten keinen Anlass für Alarmismus. Zwei Problembereiche sollten aber sowohl in der Forschung als auch der öffentlichen Diskussion weiter beobachtet werden:
Erstens kann manchmal eine kleine Beeinflussung von Meinungen große Auswirkungen haben. Ein prominentes Beispiel ist der knappe Ausgang der Brexit-Abstimmung, vor der Falschinformationen (auch in sozialen Medien) kursierten und wo verschiedene Akteur:innen versuchten, online Einfluss zu nehmen. Ebenso sind die letzten beiden US-Präsidentschaftswahlen sehr knapp ausgegangen, sodass auch hier eine möglicherweise kleine Wirkung von Meinungsveränderung oder -verstärkung letztlich eine große Entscheidung beeinflussen konnte.
Zweitens können soziale Medien für Menschen mit einem sehr engen oder bereits radikalen Repertoire an Nachrichtenquellen eine andere Rolle spielen als für die Mehrheit der Nutzerschaft. Wer sich online in vergleichsweise abgeschlossene soziale Gruppen begibt und dort dann auch ein homogenes Medienmenü konsumiert, kann sich in seinen politischen Meinungen weiter radikalisieren. Gerade in dieser Hinsicht ist YouTube für seinen „rabbit hole“-Empfehlungsalgorithmus kritisiert worden. Eine Gefahr besteht aber vermutlich auch für Menschen mit geringem politischen Wissen und nur sporadischer Nachrichtennutzung.

Wie sollten soziale Medien gestaltet sein, um die freie Meinungsbildung bestmöglich zu fördern?

Soziale Medien zeigen nicht nur das an, was man sowieso schon denkt, und ihre Wirkungen auf die Meinungsbildung sind nicht so direkt nachweisbar, wie manchmal im Alltag oder in öffentlichen Debatten behauptet wird. Kuratierung durch Nutzer:innen und Plattformalgorithmen sind auch nicht für alle Themen und möglichen Wirkungen gleich zu bewerten, und bisherige Studien bieten nur wenig Anlass für Alarmismus. Dennoch gibt es mögliche problematische Folgen für einzelne Gruppen, sei es für Menschen mit wenig Kontakt zu Nachrichten außerhalb sozialer Medien sowie Menschen mit sehr homogenen Netzwerken. Entsprechend gibt es folgende Vorschläge, wie mit sozialen Medien in Bezug auf Meinungsbildung zukünftig besser umgegangen werden sollte:
Auf Seiten der Anbieter:innen sozialer Medien erscheint ein Wandel im Selbstverständnis notwendig. Die heute großen Plattformen sind nicht als publizistische Medien gegründet worden. Im Journalismus sind über Jahrhunderte Normen für gute Berufspraktiken gewachsen. Im Gegensatz dazu besteht bei leitenden Verantwortlichen sozialer Medien in der Regel kaum ein Verständnis für die Verantwortung ihrer Produkte für Meinungsbildung und Demokratie. Die Firmen haben sich bislang erfolgreich dagegen gewehrt, als Medien eingestuft und entsprechend reguliert zu werden. Zudem folgen die großen US-amerikanischen Plattformfirmen einem sehr libertären Verständnis des Rechts auf freie Meinungsäußerung, das nicht in allen kulturellen Kontexten geteilt wird, in denen ihre Angebote weltweit genutzt werden.
Meinungsbildung als zentraler demokratischer Prozess sollte also geschützt werden, wobei auch soziale Medien eine positive Rolle spielen können.

Porträt einer kurzhaarigen Frau mit Brille
Referentin ForschungssynthesenPD Dr. Merja Mahrt
Merja Mahrt ist Kommunikationswissenschaftlerin und habilitierte sich 2017 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit einer Arbeit zu digitaler Fragmentierung, Echokammern und Filterblasen. Sie wurde 2010 an der Universität von Amsterdam promoviert, nachdem sie an der Freien Universität Berlin und der Université Michel de Montaigne – Bordeaux III studiert hatte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Kontexte und Wirkungen von digitaler Mediennutzung.
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